Brüssel, Antwerpen & Brügge - Wochenendausflug nach Terrortown
In der Küche von Bekannten hängt ein Plakat mit „Zehn prominenten Belgiern“. So viele würden mir nie einfallen. Mit Jacques Brel, Paul Rubens und Jean Claude van Damme schaffte ich es gerade auf drei. Wer weiß schon, dass Audrey Hepburn, Tim und Struppi, Lucky Luke und die Schlümpfe ebenfalls aus dem kleinen Land stammen, das zwischen Holland, Frankreich und Deutschland eingeklemmt ist? Belgien hat mehr zu bieten als diese muschelförmigen Pralinen, gezuckerte Waffeln und quietschsüßes Kirschbier. Dessen waren wir uns sicher und so buchten meine Frau und ich bereits im September Flüge nach Brüssel: vom 19. bis 23. November 2015.
Wir landeten am Donnerstagabend und dachten uns: Ausgerechnet Brüssel und dann noch nach dem 13. November 2015, bei dem unter anderem belgisch-marokkanische Terroristen aus Brüssel-Molenbeek in Paris schreckliche Attentate verübt hatten. Aber kurz vorher war der Fokus möglicher Anschläge auf Hannover gerichtet, wo sogar ein Länderspiel deswegen abgesagt wurde.
Wie sich später als Glücksgriff herausstellte, bezogen wir unser Quartier – ein schönes kleines Häuschen – in einem ruhigen Ort etwa 60 Kilometer südlich von Brüssel und acht Kilometer entfernt vom Schlachtfeld von Waterloo – wo sich Wellington’s und Napoleon’s Truppen gegenüber standen. Ein für Terroranschläge völlig uninteressanter Ort.
Am Freitag wollten wir es wissen und fuhren nach Molenbeek, um uns einen Eindruck von dem Stadtteil zu bekommen, aus dem im europaweiten Vergleich am meisten Terror-Kämpfer nach Syrien gegangen sind. Wir haben die ehemalige Kneipe eines der Paris-Attentäter gesehen und waren in den Straßen, die Presse-Kollegen in ihren Artikeln erwähnt haben.
Fazit: Molenbeek wirkt absolut unspektakulär und wie ganz Brüssel kleinstädtisch. Hier wohnen – wie übrigens in einigen anderen Stadtteilen der belgischen Metropole auch – sehr viele Muslime. Alles wirkt aufgeräumt. Es gibt wenige Graffities und zwischendrin kleine Läden. Im „Kiez“ sticht die holländische Architektur mit ihren kleinen engen Backsteinhäusern hervor. Drumherum gibt es 70er Jahre Hochhäuser.
Das Straßenbild von von den muslimischen Bewohnern Brüssels geprägt. Hier und da lange Zottelbärte und orthodoxe Kleidung. Wir haben wenige unverschleierte Frauen gesehen. Vielleicht lag das an der Tageszeit (mittags), vielleicht auch am kalt-grauen Wetter. Unser erster Eindruck passt jedenfalls in das Bild eines „Schläfer-Nests“, für das Molenbeek aktuell in der Weltpresse steht. Alles nur Klischees oder lief hier tatsächlich etwas mit der Integration schief?
Exkurs: 40 Jahre Integration
Ähnlich wie es in Deutschland mit den Türken war, so hat Belgien bis 1974 massiv in Marokko und in der Türkei Gastarbeiter angeworben. Heute haben etwa 25 Prozent aller Menschen in Belgien einen Migrationshintergrund, rund zehn Prozent der 10 Mio. Einwohnern sind Muslime. Haben sie sich integriert? Ich kann hier nur versuchen, anhand von Migration in Deutschland Annahmen zu formulieren. Vielleicht liege ich auch nicht mit allem richtig, aber ich versuche es mal so:
Lange Zeit galt das Wort Integration als politisch unkorrekt, da es die (blinde) Anpassung einer Minderheit an die Werte der Mehrheit implizierte. Folglich erwartete man lange Zeit von Migranten nicht, die Landessprache zu erlernen und sich ebensowenig mit den Gepflogenheiten und kulturellen Werten des „Gastgeberlandes“ auseinanderzusetzen. Eine traurige Konsequenz daraus ist, dass es in der älteren Generation Menschen gibt, die seit 30 Jahren in Deutschland leben und nur rudimentär Deutsch sprechen können. Isolation anstatt Integration.
Dass dieses Modell von „Anti-Integration“ überholt ist, lernt man spätestens dann, wenn man auf Reisen in muslimischen oder anderen Ländern dazu bewegt wird, sich dortigen Gepflogenheiten tunlichst anzupassen und wegen vergleichsweise geringer Vergehen drakonische Strafen erhalten kann. Andersherum verdeutlicht diese Erfahrung den „Clash“ der unterschiedlichen Kulturen, der stattfindet, wenn sie in Mitteleuropa aufeinander treffen.
Die westliche Freiheit und die vergleichsweise milde Rechtsprechung wird von Menschen, die aus Semi-Diktaturen (z.B. Türkei, Russland) oder aus „richtigen“ Diktaturen (viele arabische und afrikanische Staaten) kommen, oftmals als Gesellschaft „ohne Halt“ und „ohne Moral“ wahrgenommen, da sich viele Menschen nicht wirklich mit unseren Wertvorstellungen auseinandersetzen und vielmehr ein „überschaubares Koordinatensystem“ (das ihrer Heimat) gewohnt sind. Das schafft Irritation und befremdet. Viele (vor allem muslimische) Einwanderer nehmen „freizügige“ Frauen, „verweichlichte“ Männer und eine „jeder-kann-tun-wonach-ihm-ist“ Gesellschaft wahr.
Dass beispielsweise Frauen-, Schwulen- und Kinderrechte sowie die freiheitliche Grundordnung Ergebnisse jahrzehntelanger sozialer Kämpfe sind, wissen die meisten nicht. Warum sollte man sich dafür interessieren, wenn die eigene Community die Werte des Heimatlandes konserviert, die Religion viele Freiheiten verbietet und man kaum Reibungspunkte mit den Werten des Landes hat, in das man meist nur aus wirtschaftlichen Gründen gezogen ist?
Integration ist stets eine beidseitige kulturelle Angelegenheit und hat entgegen vorherrschender Meinungen nur indirekt etwas mit der sozialen Situation der Protagonisten zu tun. Arbeits- und Perspektivlosigkeit können hier vielmehr als Ergebnis einer unzureichenden Integration angesehen werden, nicht als Ursache.
Spätestens heute wissen wir: Wer gar in ein Land eines anderen Kulturkreises zieht, sollte dessen Sprache lernen, die Kultur dort respektieren und sich mit ihr aktiv auseinandersetzen. Andernfalls entstehen Parallelgesellschaften und aus ihnen heraus zahlreiche Konflikte, die zum Teil gewalttätig und im Nachhinein sehr schwer zu lösen sind.
Heute ist in Punkto Integration sehr vieles erreicht worden, das durch die aktuellen Ereignisse leider teilweise in den Schatten gestellt wird. Man lebt nicht glücklich miteinander, aber friedlich nebeneinander. Aktuell trifft der Hass auf die westlichen Werte zum Glück nur auf eine radikalisierte Minderheit zu.
Die Mehrheit der europäischen Muslime distanziert sich leise, aber sollte mehr in der Verantwortung stehen, auf ihre „salafistischen Schafe“ einzugehen und so genannten „Hasspredigern“ das Wasser abzugraben. Alle anderen Maßnahmen heraus aus der Parallelgesellschaft wie Ausbildung, Arbeit und die „Politik der ausgestreckten Hand“ stehen außer Frage, aber können schwerlich ohne die aktive Mitarbeit der muslimischen Gemeinden stattfinden. Ich bin mir zudem sicher, dass dieses Problem der Integration weitaus komplexer ist, als ich es hier darstelle und es die „einfachen“ Lösungen nicht gibt.
Aber dem bin ich mir sicher: Aus dem Nebeneinander kann solange kein Miteinander werden, solange man sich nicht auf grundlegende kulturelle Werte (Menschenrechte, Gleichheit und Rechte für Frauen, für Homosexuelle, etc.) einigt. Deshalb lieber ein Nebeneinander als ein Gegeneinander. Man sollte in diesen Zeiten entschlossen nach vorne gucken und das bisher Erreichte in Punkto Integration würdigen, sich nicht von den Terroristen in rassistische Klischees gegenüber Migranten und Flüchtlinge drängen lassen (genau das wollen sie ja erreichen), während man die Zügel insgesamt straffer anzieht. Liege ich damit weit daneben?
"Terrortown" Brüssel
Was Belgien betrifft, so ist dieser Staat etwas zerrüttet. Das mag unter anderem an dem für Außenstehende unsinnigen wallonisch-flämischen Konflikt liegen, der die belgische Gesellschaft durchzieht.
Im Norden sprechen sie Niederländisch, im Süden Französisch. Zwei unterschiedliche Sprachen durchtrennen die Gesellschaft.
Das war uns aber egal, da wir ohnehin kein Holländisch sprechen und unser Französisch so schlecht ist, dass die Gegenseite stets auf Englisch antwortet.
Wir verließen Molenbeek in Richtung Innenstadt und stellten anhand der vielen morgenländischen Geschäfte und Imbisse fest, dass es hier scheinbar mehrere arabische Viertel gibt. Aber wir wollten unseren Blick nicht einzig darauf werfen.
Denn, wenn man nur nach Burkas und langen Bärten Ausschau hält, dann verändert sich die Wahrnehmung und man sieht sich nicht mehr in Brüssel sondern in Tanger. So konzentrierten wir uns auf die großen Prachtplätze und das Drumherum.
Aber viel Charme konnten wir Brüssel dennoch nicht abgewinnen. Zu weitläufig, zu langweilig, zu eintönig. Vielleicht tat das graue Wetter dazu sein übriges.
Vor den großen öffentlichen Gebäuden fielen uns schwer bewaffnete Militärs auf. Wahrscheinlich eine psychologische Maßnahme, um die Menschen zu beruhigen.
Wenn jemand mit einem Sprengstoffgürtel oder einer Autobombe vorfährt, dann sind diese Soldaten ohnehin Zielscheiben.
Brügge sehen und sterben
So heißt ein Film. Sterben kann man in Belgien für die leckeren Pralinen und Waffeln, oder eben, wenn man dieses Kirschbier trinkt. Um Spezialitäten zu entdecken, standen am nächsten Tag Brügge und Antwerpen auf unserer Agenda. Da Belgien mit seinen 30.000 Quadratkilometern genauso groß ist wie das Bundesland Brandenburg (aber viermal so viele Einwohner hat), kann man mit dem Auto schnell in allen Landesteilen sein. So fuhren wir in knapp 100 Minuten nach Brügge, das als schönste Stadt des Landes gilt.
Die Altstadt mit ihren spätmittelalterlichen Häusern ist komplett erhalten und besitzt mit ihren verwinkelten Gassen und bunten kleinen bis größeren Häusern und den Kathedralen einen besonderen Charme. Selbst Mc Donald’s und die üblichen Bekleidungskonzerne sind in liebevoll gestalteten Handwerkerhäusern aus dem 16. Jahrhundert untergebracht.
Dazwischen lauter kleine Boutiquen, Schokoladen-Geschäfte und Restaurants. Wir wollten nicht mehr weg aus Brügge, weil es so schön war – mussten aber, um noch am gleichen Tag Antwerpen anzusehen, damit wir den letzten freien Tag einfach nur im Bett verbringen konnten. Schließlich wollten wir uns auch erholen.
Bombenstimmung in Antwerpen
Nach etwa einer Stunde Autobahn erreichten wir Antwerpen. Mich erreichte die SMS eines Freundes, der schrieb: „Für Brüssel ist die höchste Terror-Warnstufe verhängt worden. Da fährt noch nicht mal die U-Bahn.“ Als ich das las, guckten wir uns gerade in Antwerpen auf dem Markt verschiedene Olivensorten an. „Oh je. Aber macht nichts“, antwortete ich ihm. „Sind hier am sichersten Ort in Antwerpen – auf einem arabischen Markt.“ Hier wird ja wohl niemand eine Bombe zünden oder wahllos um sich schießen. Trotzdem guckt man sich beim Spaziergang durch die Stadt etwas genauer um.
Schließlich gibt es ja die berühmte Straße der jüdischen Diamantenhändler und während des Samstagsshoppings in der Innenstadt große Menschenansammlungen. Unser Eindruck von Antwerpen: Wenn man in Brügge war, dann hängen die Maßstäbe hoch oben. Antwerpen ist weitaus größer, unpersönlicher und hat nicht diesen besonderen mittelalterlichen Charme – auch, wenn es architektonisch aufgrund der vielen prachtvollen Gründerzeit-Bauten reizvoll ist.
Als es anfing zu regnen, stiegen wir in unseren Mietwagen und machten uns auf den Weg nach Süd-Belgien, vorbei an dem leergefegten Brüssel, in dem die U-Bahnen nicht mehr fuhren, alle öffentlichen Veranstaltungen abgesagt wurden und die Menschen zu Hause bleiben sollten.
Es hieß, zwei der Attentäter aus Paris seien in Belgien und man rechne mit konkreten Anschlägen. Für ein kleines Land wie Belgien ein Schockzustand, wie uns unsere Vermieterin verriet.
Alle schauten gebannt auf den Fernseher und hofften, dass die beiden bald gefasst werden. Auch die Schulen sollten dann am Montag in Brüssel geschlossen bleiben.
Zeitweise erinnerte uns Belgien an Israel, das eine ähnliche Größe wie Belgien hat. Nur, dass so eine Situation in Israel zum Alltag gehört und das Land von feindlichen Staaten umzingelt ist, in die man eben nicht mal ausweichen kann, um Ruhe zu finden.
Für Belgien ist dieser Zustand Neuland und man beginnt spätestens jetzt über Begriffe wie Integration und Einheit nachzudenken.
Eine getragene Stimmung, die ich auch an unserer Vermieterin bemerkte, die sich für die Umstände unseres Aufenthalts entschuldigte und von den Ereignissen ergriffen war. Der Ausnahmezustand wurde auf Montag verlängert.
Go Home
Am Sonntagabend lasen wir in den Nachrichten, dass der Ausnahmezustand verlängert wird. Ganz Belgien starrte gebannt auf Brüssel, dessen Zentrum hermetisch abgeriegelt wurde. Bei 18 Hausdurchsuchungen wurden 16 Verdächtige festgenommen. Die Polizei und das Militär kontrollierten öffentliche Plätze, schickten Touristen zurück in ihre Hotels und Anwohner in ihre Wohnungen.
Am Montagmorgen rechneten wir mit Staus in Richtung Flughafen und erhöhten Sicherheitskontrollen. Aber das stellte sich als Fehleinschätzung heraus. Die Sonne schien. Der Weg zum Flughafen am östlichen Autobahnring war normal befahrbar und am Flughafen selbst konnten wir keine verstärkten Kontrollen oder langen Schlangen an der Sicherheitsabfertigung feststellen. Ganz im Gegenteil wirkte der große moderne Flughafen Zaventem ganz anders als der schrottige Schönefelder Flugplatz freundlich und wie eine Chill-Zone.
Unser Fazit zu Belgien
Der Terror kann nun überall in Europa seine hässliche Fratze zeigen, ebenso bei uns zu Hause. Dafür kann Belgien nichts. Das Land ist klein und es fehlen wegen der dichten Besiedelung die landschaftlichen Weiten. Dafür ist Brügge ein echtes Highlight. Unsere ersten Eindrücke von Brüssel und Antwerpen waren nicht umwerfend, aber auch nicht negativ. Vielleicht haben wir die „einschlägigen Ecken“ hier nicht entdeckt.